Trainingspause ist gleich Zwangsauswilderung?
Trainingspausen kommen immer mal wieder vor, meistens sind sie nicht beabsichtigt, sondern “passieren” einfach so, weil das Leben in vielen Fällen nicht nach Plan verläuft. Meine Pferde und ich haben nun gerade eine solche mehrmonatige und ungeplante Pause ohne jegliches Training hinter uns. Und nicht nur das Training, sondern auch die Zeit insgesamt, die ich mit ihnen verbringen konnte, war eingeschränkt. Eine ungewohnte und nicht sehr schöne Situation. Trotz aller Vertrautheit, die mich mit meinen Pferden verbindet, haben sich in dieser Zeit immer mal wieder Zweifel eingeschlichen – was für Auswirkungen hat eine solche Pause auf unsere Beziehung? Was bedeutet sie für das Training insgesamt und die Rehabilitation nach Verletzung und Krankheit meines Seniors? Wenn sich das Gedankenkarussell drehte, sah ich es schon vermeintlich vor mir: Halbverwilderte Pferde die kein Interesse mehr am Menschen haben… das dies so sehr wahrscheinlich nicht eintreten würde, war mir eigentlich klar, aber die Beiden leben so naturnah im Herdenverband, dass ich mich schon immer mal wieder fragte, was wird “danach” sein. Genau diese naturnahe Haltung machte es jedoch überhaupt erst möglich, sie in eine echte Pause zu schicken, da sie dadurch auch ohne mich alles hatten – und noch haben – was sie für ein glückliches Pferdeleben brauchen.
Bei kürzeren Pausen, die durch eine Reise oder eine Erkältung entstehen, wusste ich schon: keine Sorge – die tun im Zweifelsfall eher gut, aber mehrere Monate? Besonders bei meinem Jungspund (5) machte ich mir Gedanken – ganz einfach, weil wir uns nur ein paar Jahre kennen und ich ihn (noch) nicht so gut einschätzen kann wie meinen Senior (23). Ihn kenne ich seit über zwei Jahrzehnten, da ist ein ganz anderes Gefühl von Vertrautheit. Andererseits ist mein Jungpferd definitiv vom Charakter sehr dem Menschen zugewandt, mein Professor dagegen ist Menschen gegenüber viel skeptischer. Dies wird auch daran liegen wie beide aufgewachsen sind: Eine Studie aus Frankreich (Sankey et al. 2010) zeigt, wenn ein junges Pferd einmal gelernt hat den Menschen mit positiven Erlebnissen zu verknüpfen, dann ist es generell aufgeschlossen und interessiert an ihm und dieses Interesse bleibt auch über einen längeren Zeitraum erhalten. Hierbei wurde an Jährlingen geforscht und nur ein kurzer Trainingsablauf mit wenig Kontakt zum Menschen gewählt. Dennoch blieb die generell positive Einstellung und Neugier dem Menschen gegenüber längere Zeit erhalten. Und auch im Bezug auf (m)eine Trainingspause ist dies ein positives Ergebnis, denn bei meinen Pferden – und das ist glücklicherweise bei vielen so – handelt es sich um Familienmitglieder. Die Beziehung zu ihnen ist also viel intensiver als bei den Pferden der Studie.
Pferde und ihr Langzeitgedächtnis
Da seit einigen Wochen unsere Zwangspause vorbei ist und ich schon wieder erfahren habe, dass meine Pferde und ich genauso eng wie vorher sind, decken sich meine persönlichen Erlebnisse mit den Ergebnissen der Wissenschaftler. Meine Pferde und ich sind mit Freude dabei, weil wir endlich wieder Zeit miteinander verbringen können. Auch unsere gemeinsamen Arbeit gelingt so wie vorher. Die Forschung unterstützt auch diese Erfahrung: Pferde haben ein hervorragendes Langzeitgedächtnis. Eine Studie (Hanggi & Ingersoll 2009) zeigt, dass Pferde sich an Gelerntes noch mindestens sieben Jahre bzw. auch zehn Jahre oder länger erinnern, ohne dass in der Zwischenzeit dieses Wissen von ihnen angewandt wurde. Sobald positive Verstärkung durch ein Futterlob mitspielt, wird das Lernen und Erinnern noch gefördert, dies zeigen weitere Untersuchungen (z.b. Sankey et al. 2010, Cardinal et al. 2002). Auch ich nutze das Futterlob, arbeite bei meinen Pferden aber auch viel mit Stimmlob und ‘”Kraullob”. Dies mache ich von der Situation und auch dem jeweiligen Charakter abhängig.
Auswirkungen auf die Muskulatur
Bei einer mehrmonatigen Pause spielen jedoch auch noch andere Faktoren eine Rolle, eine davon ist die Muskulatur. Diese geht – im Gegensatz zu dem Erlernten – verloren, sobald sie nicht trainiert wird. So auch bei meinen Beiden. Ich muss also bei ihrem Wiederaufbautraining berücksichtigen, ob sie überhaupt noch das leisten können, an dass sie sich theoretisch erinnern. Ich bin als Ausbilderin meiner Pferde dafür verantwortlich, keinen Frust zu erzeugen, indem ich Lektionen verlange, die zur Zeit aufgrund fehlender Muskulatur nicht (mehr) möglich sind. Auch Muskelkater sollte dringend vermieden werden, und das Training behutsam aufgebaut werden. Hier ist also unter anderem viel Geduld und Einfühlungsvermögen gefragt.
Aufgrund der fehlenden Muskulatur kommt Reiten für mich noch nicht in Frage, wir haben daher wieder mit gymnastizierender Boden-, Hand- und Longenarbeit begonnen. Für den Jungspund ist der Rückgang der Muskulatur nicht so dramatisch – er befindet sich noch absolut in der Grundausbildung. Das heißt viel von unserem Training drehte sich noch um Verständnis und Gehorsam und nicht wirklich um Kraft. Reiten war vor der Trainingspause wenig Thema und wird eben erst dann wieder stattfinden, wenn wir wieder eine solide Muskulatur als Grundlage ausgebildet haben. Bei meinem älteren Professor sieht die Sache anders aus. Wohltrainiert verletzte er sich im Sommer 2017 und befand sich – aufgrund der Schwere der Verletzung – im Prinzip noch in Rehabilitation als die Pause kam. Bei ihm war ich gerade erst dabei wieder behutsam Muskulatur aufzubauen, wir waren weit entfernt von der alten Kraft. Dass er aber vor der Verletzung viele Jahre sehr gut trainiert war, kommt uns nun zu gute, denn Studien (siehe z.B. Gundersen 2016) belegen einen interessanten Sachverhalt bei der Skelettmuskulatur von Wirbeltieren (zu denen die Pferde, aber auch wir Menschen gehören): das “muscle memory”. Waren die Muskelfasern einmal groß und die Muskulatur somit stark ausgeprägt, kann sie sich nach einem Rückgang wieder viel schneller aufbauen, als wenn die Muskulatur nie trainiert war. Das liegt an den Zellkernen der Muskelzellen (Myonuclei). Diese nehmen in der Anzahl zu, wenn der Muskel trainiert wird. Wird der Muskel abgebaut weil kein Training erfolgte, bleiben die vielen Kerne jedoch erhalten und bilden so das Gedächtnis des Muskels und “erinnern” daran wie stark er einmal war. Man weiß von Menschen, dass die Myonuclei mindestens 15 Jahre erhalten bleiben, eventuell aber das ganze Leben. Am effizientesten scheint dieses “Gedächtnis” zu funktionieren, wenn in jugendlichem Alter Muskulatur aufgebaut worden ist. Zwar wurde der Hauptanteil der Muskulatur meines Seniors nicht in jugendlichem Alter aufgebaut, sondern später, aber dennoch war er viele Jahre sehr gut bemuskelt und in Form, da er seit 12 Jahren nach den Prinzipien der akademischen Reitkunst gearbeitet wird. Die Vergangenheit hat auch schon gezeigt, dass seine Muskeln recht schnell wiederkommen können. Allerdings muss man hier realistisch und auch fair gegenüber dem Pferd bleiben. Der Wiederaufbau muss an das Alter des Pferdes angepasst sein, und man darf keine Wunder erwarten. Die Devise für meinen 23-jährigen Noriker lautet also hier: schonender, kontinuierlicher Aufbau und Geduld! Im Vordergrund bei ihm steht für mich eindeutig das Training als Rehabilitationswerkzeug. Hauptsache er bleibt lange gesund, reine Lektionen stehen hier absolut im Hintergrund.
Mein persönliches Fazit
Man darf gelassen bleiben, wenn eine längere Pause mit den Pferden ansteht. Die verschiedensten Gründe können dazu führen, und es kommt im Laufe des Lebens immer anders als man denkt. Unsere Pferde haben ein hervorragendes Gedächtnis und ihre Muskulatur ebenso. Es ist einfach wichtig, dass man in der Vergangenheit positive Erlebnisse geteilt hat und in Zukunft wieder teilen wird. Eine Sache kann man bei einer längeren Pause jedoch nicht vermeiden: dass man sich gegenseitig fürchterlich vermisst!
Quellen zum Weiterlesen:
Cardinal et al (2002) Emotion and motivation: the role of the amygdala, ventral striatum, and prefrontal cortex doi: 10.1016/S0149-7634(02)00007-6
Gundersen (2016) Muscle memory and a new cellular model for muscle atrophy and hypertrophy doi:10.1242/jeb.124495
Hanggi & Ingersoll (2009) Long-term memory for categories and concepts in horses (Equus caballus) doi: 10.1007/s10071-008-0205-9
Sankey et al. (2010) Positive interactions lead to lasting positive memories in horses, Equus caballus doi:10.1016/j.anbehav.2009.12.037
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